[wilhelmtux-discussion] Informatik Volksschule Stadt Bern

Manfred Morgner manfred.morgner at gmx.net
Thu Jan 12 23:18:10 CET 2006


Hallo Theo, Hallo List,

die Frage, ob man mit Freier statt Unfreier Software Geld sparen  
kann, ist eine Sicht, bei der das Freie nur verlieren kann. Ich  
beobachte zwei Entwicklungen auf Seiten der Anbieter Unfreier  
Software, die sich im Zusammenhang mit 'Computer in der Schule'   
manifestieren:

1) Angestrengte Kostendiskussion mit immer abstrakteren Modellen  
(z.B. das völlig irrelevante TOC)
2) Versuche der gleichen Lobby, die Schwerpunktthemen zu unterdrücken  
(siehe FSF-Info bezüglich Manipulation der Wiener Dokumente)

Strategisch wäre es also richtig, den 'Gegner' auf das Feld zu  
führen, vor dem er am meisten Angst hat == "Erwerb von  
Kulturtechniken". Damit möchte ich diesen Gedanken als eingepflanzt  
betrachten. Darüber hinaus möchte ich aber gern noch ein paar  
Bausteine für die Diskussion bereitstellen.

** Wird Richtige Frage gestellt?

Ich würde diese Frage nicht aufwerfen, wenn ich nicht daran zweifeln  
würde. Meine Meinung ist, dass hier die Sachlage völlig verkannt  
wird. Ausgerechnet Computer in der Schule, sind ein Thema, bei dem  
man zunächst andere Fragen klären muss, die üblicher Weise nicht  
diskutiert werden.

Ich denke, dass es kaum jemanden gibt, der in Frage stellen würde,  
dass die grösste Einsparung dadurch erzielt werden kann, dass man in  
der Schule KEINE Computer einsetzt. Und damit auch weder Freie noch  
Unfreie Software. Der Verzicht auf Computer läuft ganz klar auf  
Nullkosten hinaus. Mehr kann man nicht sparen.

Die erste Frage, die sich auf Basis einer Kostenbetrachtung ergibt,  
muss also sein:

1) Was will man mit Computern im Schulzimmer erreichen?

Wieso soll man überhaupt einen einzige Rappen für Computer ausgeben?  
Was sind die Ziele des Computereinsatzen im Unterricht und in der  
Bildung allgemein?

Ich habe seitens der Entscheidungsträger solcher Prozesse bis heute  
noch keine sinnvolle Antwort auf diese Frage erhalten! Um ein  
Beispiel zu geben:

"Die Schüler sollen die Anwendung der in der Wirtschaft verbreiteten  
(Office-)Software erlernen." Diese Antwort zählt zu den ersten und  
damit häufigsten. Leider ist sie auch eine der unsinnigeren Annahmen.

  * Will die Schule die Berufsausbildung vorwegnehmen?
  * Weiss die Schule, welche Software in 13 Jahren (also nach dem  
Durchlauf der so trainierten Schüler) in der Industrie verwendet wird?
  * ! Beherrschen die Lehrer die besagte Software?
  * Kann die Schule den Schülern etwas vermitteln, was über die  
selbsterworbenen Fähigkeiten der Schüler hinaus geht?

Wenn 70jährige Mitbürger innerhalb von 6..12 Monaten lernen können,  
wie sie mit Computern (also allgemein Computer, nicht Windows-PC mit  
Office) Briefe schreiben, Kalkulationen durchführen, Fotos verwalten,  
Musiksammlungen zusammenstellen (u.a. CD's rippen), Email verwenden,  
im Internet nach Informationen suchen, Videos bearbeiten,  
Geburtstagskarten entwerfen, ... Was will die Schule dann den  
Schülern vermitteln, die ihren Grosseltern das alles beibringen?

Persönlich habe ich den Eindruck, dass die Schulen Computer kaufen  
'weil man das heute so macht' und typischer Weise keine konkreten  
Pläne zum Einsatz haben. Wenn dem so ist, ist es schlauer, sich mit  
dem Aspekt der Freien Software zurückzuhalten, denn wenn es schon  
eine schlechter Idee ist, wieso dann die gute Freie Software damit  
assoziieren und dadurch in Verruf bringen?


Um nochmals auf die Kosten zurückzukommen:

Wäre es nicht eine enorme Totaleinsparung, statt Inhalte zu  
vermitteln, mit denen die Schüler besser vertraut sind als die  
Lehrer, die Schulausbildung zu verkürzen, z.B. um ein Jahr? Das  
könnte enorme Summen sparen und die Wirtschaft beflügeln.


Nun meine Themenvorschläge

Thema 1: Mit welchen Zielen sollen Computer im Unterricht eingesetzt  
werden?

War die Einführung von Taschenrechnern in der Schule eine sinnvolle  
Massnahme? Ich glaube nicht. Taschenrechner in der Schule (vielleicht  
noch solche, die Gleichungen automatisch lösen können) sind etwa so  
gut wie Hebebühnen in der Sporthalle, mit denen sich die Schüler die  
Klimmzüge erleichtern.

Henry Ford soll sinngemäss gesagt haben: "Denken ist eine unerhört  
anstrengende Angelegenheit. Andernfalls würden sich viel mehr  
Menschen damit befassen."

Scheinbar ist der Einsatz von Denkvermeidern (z.B. Taschenrechner,  
Computer) aus diesem Grund auch eher durchsetzbar als der Einsatz von  
Bewegungsvermeidern (Rollstühle, Kräne, Hebebühnen, ... in der  
Turnhalle)

Zusammengefasst:

Der Einsatz von Computern in der Schule ist nur sinnvoll, wenn diese  
Dinger als Hilfsmittel zum Erwerb erweiterter Kulturtechniken dienen  
und nicht etwa dem Erleichtern des Denkens oder gar dem Erlernen der  
Verwendung spezifischer Software. Die genannten Kulturtechniken sind  
unter anderen:

  + Informationsrecherche
  + Kooperation (Schule, Kanton, Land, Sprachraum, Welt)
  + Internationale Kommunikation
  + Verteilte Projektarbeiten
  + Echte Anwendung fremder Sprachen
  + Kultureller Austausch
  + Informationeller Austausch


Thema 2: Welche Software soll verwendet werden?

Ich unterstelle, dass der Erwerb der o.g. Kulturtechniken der Inhalt  
der Ausbildung mit und an Computern ist, dann benötigt man

  + Einen Webbrowser
  + Ein Emailprogramm

und vielleicht einen Drucker, und die Rechercheergebnisse zur  
späteren Verwertung auszudrucken. Welches ist der standardkonformste  
Web-Brower? (1) Safari, (2) Konqueror, (3..n) nichts mehr

Weder Konqueror noch Safari sind auf den in Frage stehenden Unfreien  
Betriebssystemen verfügbar. Dabei impliziere ich, dass ich die  
Installation von KDE auf Windows für so abwegig halte, dass ich sie  
als nicht real betrachte.


Thema 3: Wie soll gearbeitet werden?

Die ewige Diskussion über die Wiederherstellung von verstümmelten  
Betriebssysteminstallationen finde ich absurd. Wenn ich einen  
Computer zur Informationsrecherche und zum geistigen Austausch mit  
anderen verwende, werde ich mich dann darüber freuen, wenn jede Woche  
einmal alle meine Emails, Rechercheergebnisse und Kontakte infolge  
turnusmässiger, präventiver Systeminstallationen verschwinden? Wohl  
kaum.

Richtig ist die Errichtung produktiver Systemumgebungen, also solcher  
Systemumgebungen, die ein Niveau besitzen, mit dem die Schüler ihre  
Aufgaben umsetzen können, nicht aber das System selbst beschädigen;  
weder bewusst noch unbewusst. Die zur Debatte stehende Unfreie  
Systemumgebung ist dafür klar ungeeignet.


Thema 3: Wer profitiert von welcher Lösung?

diese Frage lasse ich einfach einmal im Raum stehen. Nur einen  
kleinen Hinweis: Profitkandidaten sind:

  - Hersteller
  - Dienstleister
  - Lehrer
  - Schulverwaltung
  - Politiker

Unter profitieren verstehe ich auch, den bequemen Weg zu gehen, sich  
mit einer Sache nicht wirklich befassen müssen.


Thema 4: Was soll die Bildungspolitik erreichen?

  Ziel A) Abgerichtete Anwender spezifischer Produkte erzeugen
  Ziel B) Den Schülern das Denken und die Anwendung etablierter  
Technologien vermitteln

Beide Ziele können richtig sein, denn solange die Schweiz als  
Zuzugsland für hochqualifizierte Ausländer interessant ist, kann sich  
die Schweiz wie eh und je die Fachleute aus dem Ausland holen.

Nur, wozu dann der ganze Aufwand mit den Computern? Für Ziel (A) ist  
es wirklich besser, die Schüler ein oder zwei Jahre früher in die  
Lehre oder das Studium zu entlassen. Dann können die Lehrbetriebe und  
die höheren Schulen ihr spezifische Spezialisierung selbst vornehmen  
und die jungen Bürger stehen eher im Berufsleben, was  
gesamtgesellschaftlich natürlich mit enormen Kostenvorteilen  
verbunden ist! Sogar die Alterspyramide würde so wieder ein wenig  
zurechtgerückt. -> Finanzierung der Renten ...


Schlussfolgerung:

Besonders im Fall der Schulen, hat es nicht wirklich Sinn, sich in  
jedem Schulbezirk wund zu machen. Wichtiger ist die  
Grundsatzdiskussion. Wenn ich nicht grundsätzlich bereit wäre, mein  
Alter in Armut zu verbringen, würde mich die heutige Bildungspolitik  
in den Industrienationen, besonders im Hinblick auf die zunehmend  
eingesetzten Denkvermeidungsgeräte, in Panik versetzen.

Die Industrievertreter der heutigen Industriestaaten werden nicht  
müde, zu betonen, wie schlimm die chinesischen Produktkopien und  
Billigprodukte für die Importländer sind. Dass die Schüler in Europa  
zunehmend dümmer aus den Schulen kommen und gar nicht mehr denken  
können, stört niemanden. Dabei ist genau dies die Wurzel unseres  
Untergangs.



Zu guter letzt ein Beispiel aus der Praxis:

Ich gehöre exakt zur letzten Generation von Schülern, die ohne  
Taschenrechner rechnen mussten. Während meines Studiums hat sich die  
verblödende Wirkung von Taschenrechnern mehrfach in Klausuren und  
Testaten manifestiert. Ein beliebiges, reales Beispiel:

Ein Student der Taschenrechnergeneration hat ausgerechnet, das man  
auf einer Drehmaschine zum Abheben eines Spanes von 1mm Tiefe in etwa  
10 hoch 9 Watt Leistung benötigt. Er hat das tatsächlich so in seine  
Klausur geschrieben weil er keine Vorstellung hatte, wie gross diese  
Zahl ist und was diese Grösse bedeutet. Die Zahlenfolge war richtig,  
nur hatte er offenbar ein Komma auf seinem Taschenrechner an die  
falsche Stelle gesetzt. Diejenigen, die noch ohne Taschenrechner  
aufgewachsen waren, sind vor lachen vom Stuhl gekippt, die  
Taschenrechnergeneration hat gar nicht richtig verstanden, wieso der  
Dozent auf einen so harmlosen Fehler so ausdrücklich hinwies.


Mit der ziellosen Einführung von Computern in der Schule, wird  
unvermeidlich die nächste Stufe des Niedergangs des Abendlandes  
eingeläutet. Wenn Politiker und Schulverwaltungen darüber nicht  
diskutieren wollen, brauchen wir uns um den gesamten Rest, wie  
Steuern, Energiepreise, Kriminalitöt usw. keine Gedanken zu machen.  
Dann sollten wir uns darauf einrichten, dass die nächste Generation  
von Schülern, in ca. 15 Jahren, den realen Untergang des Abendlandes  
einläutet. Begleitet vom Siegeszug hochmotivierter, hochtalentierter,  
hochqualifizierter Chinesen.

Lange Rede - kurzer Sinn.
Tut mir leid, Euch mit meinem Erguss gequält zu haben.

Viele Grüsse,
Manfred





Am 11.01.2006 um 10:37 schrieb Theo Schmidt:

> Liebe Leute,
>
> Dieses Mail geht an die Wilhelmtux-Liste und an die Lugbe-Liste,  
> sowie an die Lugs-Liste. Bitte wenn möglich allfällige Diskussionen  
> auf der Wilhelmtux-Liste führen.
>
> Die Stadt Bern möchte sämtliche Schulzimmer der öffentlichen  
> Schulen mit PCs ausrüsten. http://www.bern.ch/online/aktuell/ 
> 2005/11/ict
> Es dürfte sich um grob 1000 PCs handeln, inklusive Netzwerk,  
> zusätzlichen Informatikräumen, Drucker, usw. Dafür sollen  
> Investitionen von 8.5 Millionen ausgegeben werden.
>
> Es soll sich um ein Konzept auf Basis des zürcherischen Modells  
> Kits für Kids handeln, welches auf Windows basiert und damals  
> kontrovers diskutiert aber von der Stimmbevölkerung angenommen wurde.
>
> Das Berner Projekt ist schon weitgehend geplant und wohl von der  
> Verwaltung akzeptiert, muss aber noch drei demokratische Hürden  
> passieren:
>
> 1) Diskussion in Kommissionen
> 2) Diskussion im Stadtrat
> 3) Volksabstimmung
>
> 1) findet sehr bald statt, in den nächsten Wochen.
>
> Auf Grund des Protokolls auf
> http://www.bern.ch/stadtrat/archiv/2004/20040311.pdf
> Seite 14 und folgende, ist ersichtlich, dass die Stadt recht genau  
> über FOSS Bescheid weiss und diese im Fall der eigenen Website  
> schon erfolgreich eingesetzt hat (Plone), aber keine eigentlich  
> FOSS-Expertise besitzt, nicht bereit ist für "Experimente" oder  
> "Pionierrollen" und deshalb auf der Windows / MS Office-Schiene  
> weiterfahren möchte. (Mac ist offenbar nirgendwo mehr ein Thema.)
>
> Wenn wir aber weiterkommen möchte, ist diese Schulprojekt in der  
> Bundeshauptstadt von grosser Wichtigkeit, weit wichtiger als das  
> Projekt in Thun, wo wir zu spät waren.
>
> Ich habe bisher mit einigen Stadträten Kontakt aufgenommen, die  
> bereit sind, die Sache politisch in unserem Sinne zu diskutieren.  
> Das Geschäft kann mit Auflagen versehen oder gar zur Neubeurteilung  
> zurückgewiesen werden. Wir haben jedoch die üblichen Probleme, wie  
> auch in Thun:
>
> 1) Kaum jemand der Politiker weiss viel von FOSS und betrachtet es  
> als rein technisches Problem oder aber als Spielerei.
>
> 2) Die Windows-Power User in den Verwaltungen befürchten  
> verständlicherweise Verlust von Kompetenz, Status und/oder Mehrarbeit.
>
> 3) Grossen Firmen wird mehr Vertrauen geschenkt als einer losen  
> virtuellen Bande.
>
> 4) Wunsch nach einheitlichen Lösungen.
>
> 5) In einer massgeblich von SP-PolitikerInnen regierten Stadt haben  
> es Leute im SP-Parlament schwieriger, auf Opposition zu Ihren  
> KollegInnen in der Exekutive zu gehen.
>
> 6) Bürgerliche Politiker neigen offenbar gleich dazu alles zu  
> privatisieren (vgl. Pressemeldungen zu Blocher im EJPD), wobei wohl  
> nur grosse Firmen bestehen können und die demokratische Kontrolle  
> schwindet.
>
> 7) Fast alle LehrerInnen haben wenig Informatik-Kenntnisse, können  
> jedoch Windows-PCs oder Macs mit den üblichen Programmen bedienen.
>
> In Bern haben wir jedoch vielleicht eine gute Chance, etwas zu  
> erreichen. Ich habe auch mit der Schlüsselperson, Informatik-Chef  
> Hans Teuscher Kontakt aufgenommen. Er scheint mir kompetent,  
> freundlich und offen. Vielleicht gelingt es mit dem nötigen  
> politischen Druck eine Neubeurteilung des Projekts zu erreichen  
> oder zumindest einige Verbesserungen zu erwirken. Er hat mich  
> gebeten aufzuzeigen, wie man mit FOSS grosse Beträge sparen könnte.  
> Abgesehen von den offensichtlichen Einsparungen bei Lizenzen,  
> möchte ich Leute, die hier Genaueres wissen, sich hierzu zu  
> äussern. Die Windows-Welt ist auch schon weiter als früher, in dem  
> an den Schulen fixfertige "Recovery-Images" nach jeder Sitzung den  
> Urzustand des PCs wieder herstellen können, fast so gut wie  
> Knoppix! :-)
>
> Aber wir können nur etwas bewirken, wenn wir etwas machen. Dies ist  
> deshalb ein Aufruf, eine Arbeitsgruppe zu bilden in dieser  
> Angelegenheit. Vom Thuner Projekt her gibt es schon einige wenige,  
> die sich eingesetzt haben, besonders Matthias Stürmer (ex-Ko- 
> koordinator LOTS). Bitte meldet Euch, wenn Ihr interessiert seid  
> hier mitzumachen. Hier auf der Liste (Wilhelmtux) oder bei mir oder  
> bei Matthias.
>
> Wenn wir keine Arbeitsgruppe zusammenbekommen, ist die Sache wohl  
> im Sinne von Kits für Kids gelaufen, und dann zu Recht. Also bitte  
> meldet Euch, so bald es geht, entweder zu aktiver Mitarbeit, oder  
> wenigstens hier zu Wort.
>
> Theo Schmidt
> Vizepräsident Wilhelm Tux
> www.wilhelmtux.ch
> _______________________________________________
> wilhelmtux-discussion mailing list
> wilhelmtux-discussion at wilhelmtux.ch
> http://wilhelmtux.ch/vmailman/listinfo/wilhelmtux-discussion
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